Die Europawahl sollte einen großen Sprung nach vorn für die Demokratie bringen – und entpuppte sich als großer Schwindel. Wie konnte es dazu kommen? – Teil 6 der Sommer-Serie: Disruption in Aktion.
Dumm gelaufen, aber kein Beinbruch. So wird die Europawahl in Deutschland ganz überwiegend gesehen. Es sei zwar schade, dass das “Prinzip der Spitzenkandidaten” nicht funktioniert habe – doch das werde man schnellstmöglich reparieren. Schließlich hat dies sogar Ursula von der Leyen versprochen.
Außerdem müsse man nun den Schaden begrenzen, heißt es. Er habe der Krise der europäischen Demokratie keine weitere Krise hinzufügen wollen, sagte der Spitzenkandidat der konservativen EVP, Manfred Weber, nach der verlorenen Wahl (bei Lanz). Deshalb habe er für von der Leyen gestimmt.
Doch diese Sichtweise greift zu kurz. Und zwar aus zwei Gründen.
Zum einen braucht das Spitzenkandidaten-System stabile Mehrheiten, um zu funktionieren. Doch die sind im Mai 2019 verloren gegangen. Erstmals seit 1979 stehen die zwei größten Blöcke – die Europäische Volkspartei (EVP) und die Sozialdemokraten (S&D) – ohne eigene Mehrheit da.
„Wir haben jetzt dieselbe Lage wie in den meisten Mitgliedstaaten“, klagte S&D-Spitzenkandidat Frans Timmermans nach der Wahl: Das Parlament ist zersplittert, die Macht ist erschüttert. Keine Mehrheit für niemand – das gibt es nicht mehr nur in Timmermans Heimat, den Niederlanden. Dies ist auch die neue Lage in Europa.
Quelle: “Europa ohne Zentrum”, Cicero
Zum anderen ist die Krise, die Weber vermeiden will, längst da. Spätestens seit dem Brexit-Votum 2016 erleben wir einen Paradigmenwechsel. Die Idee, dass sich die Europawahl in den säkulären Prozeß der Demokratisierung einschreibt, ist ebenso erschüttert wie die Vorstellung, die Integration der EU gehe einfach immer weiter.
Der europapolitische Fortschritt ist nicht mehr selbstverständlich – im Gegenteil.